Kreuzberg ist voller merkwürdiger Gestalten. Öfter als in anderen Teilen der Stadt, begegnet man an einem ganz normalen Kreuzberger Samstagabend einer ganzen Reihe von ihnen. Dazu muss man keinen einzigen Schritt tun. Es reicht, sich einfach in irgendeine Kneipe zu setzen und zu warten. Sie kommen alle. Früher oder später. Bestimmt.
Ein besonders schönes „Exemplar“ ist der „Kerzenmann“. Er trägt stets einen dieser „Künstler-Schlapphüte“, die Mütze also ist sein Markenzeichen. Allerdings bei weitem nicht sein wichtigstes. Es ist auch nicht der übergoße Rucksack, in dem sich seine Schätze befinden. Es sind – der Name verrät es bereits – Kerzen. Übergoße, riesige Knüppelkerzen.
Die Kerzen des Kerzenmannes sehen nicht wie Kerzen aus, eher wie Schlaginstrumente, irgendwie selbstgemacht. Und das sind sie vermutlich auch. In der Werkstatt des Kerzenmannes entstehen jede Woche vielleicht hunderte neue Säulenkerzen – wer weiß. Jedenfalls ist das Geschäft des Kerzenmannes, nachts die Kreuzberger Kneipen, Bars und Restaurants abzuklappern und seine Kerzen feil zu bieten. Sein Verkaufsritual ist dabei immer gleich: Er kommt durch die Tür, ein kurzer Blick in die Runde, geübter Griff in den halb geschulterten Rucksack, Kerze gepackt und dann folgt sein unvergesslicher Ruf – wer ihn einmal gehört hat, vergisst ihn nie wieder. „Keeeeeeeerzen“ – lang und gedehnt, die Stimme klingt wie ein Reifen, der seine Luft verliert. Der Kerzenmann schwenkt die Riesenkerze vor sich her – „Keeeeeeeeeeerzen“. Mit diesem Ruf und der Phalluskerze in der Faust arbeitet er sich langsam durch den Laden.
Doch sein Blick ist leer. Er tut einem automatisch leid, der Kerzenmann. Warum? – Weil man ihn nie auch nur eine einzige Kerze hat verkaufen sehen. Woran das liegt? Vielleicht daran, dass die Leute immer gerade ausgehen wenn der Kerzenmann kommt. Und wer will schon den Rest der Nacht mit einem dieser Ungetüme durch die Stadt laufen? Unbedingt häßlich sind sie ja nicht, nur einfach unpraktisch groß. Man hätte sicher sehr lange Freude an so einer Kerze – Jahre, Jahrzehnte womöglich. Vielleicht würden sogar noch die Enkel von ihrem warmen Lichte zehren.
Und so zieht der Kerzenmann stest unverrichteter Dinge wieder von dannen. Den Riesenrucksack nicht um eine einzige Kerze erleichtert. Zuhause angekommen wird er womöglich eine Kerze entzünden und dann darüber nachdenken, welche Kerzen er morgen gießen wird. Vielleicht auch kommt ihm ein leiser Zweifel in den Sinn: „Kerzen – ist das wirklich mein Ding?“. Aber dieser Gedanke löst sich schnell wieder auf – wie der Rauch einer brennenden Kerze natürlich. Denn morgen ist ein neuer Tag, neue Menschen werden die Bars bevölkern. Und irgendwo da draußen muss es jemanden geben, der eine Kerze kaufen möchte…
ani
19/12/2011 at 13:31Er heisst übrigens Strohstern, falls das jemanden interessiert….
Nachtbin
28/02/2011 at 8:57Hallo, der „Kerzenmann“ zieht seine Runden schon seit mindestens 20 Jahren. Sein Spruch war und ist aber immer derselbe geblieben. Ein mit zusammengedrücktes Zwerchfell hervorgestossenes „Kerze kaufen“. Gruß
Konstantin
15/12/2008 at 10:46Danke für die Nachricht. Natürlich ist der Reiz groß, doch mal eine zu kaufen, da hast Du völlig recht. Werde das nun nachholen. Dem Aussehen nach müssen die Kerzen ja wirklich mehrere Adventszeiten lang halten – eine gute Investition also… Und ohne das Erscheinen des Kerzenmanns würde an vielen Abenden tatsächlich was fehlen.
der käufer
14/12/2008 at 16:08Ich habe eine gekauft. Gibs zu, eigentlich reizt es einen doch, spätestens nachdem man ihn zum hundertsten Mal gesehen hat, endlich einmal mit dem Kerze-kaufe-Mann zu reden und eine dieser tollen Kerzen zu haben. Ich mag das total, wenn er immer mit seinen Kerzen in die Kneipe kommt.