Die Frau mit den Blumen

Ähnlich skurril, wie der Kerzenmann, ist auch die „Frau mit den Blumen“. Auch sie hat selbstverständlich einen richtigen, leider momentan noch unbekannten Namen. Deshalb soll zur Orientierung das recht verwaschene Bild dienen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen mit den riesenhaften Knüppelkerzen, ist die „Frau mit den Blumen“, kurz „Blumenfrau“ genannt, schweigsam. Sehr schweigsam sogar.
 
Sie kommt nachts. Sie kommt alleine. Und sie hat einen Korb mit selbstgepflückten (?) Blumen dabei. Es sind meist mickrige Blumen, nichts, was irgendwie Eindruck schindet. Deswegen wird sie von ihren professionellen Kollegen, den Rosenverkäufern, wahrscheinlich auch nicht recht ernst genommen. Vielleicht sogar belächelt? Wieviel eines ihrer Mini-Sträußlein kostet, ist leider unbekannt. Die Blumenfrau guckt immer derart grimmig, dass man schon gar keine Lust mehr hat, die Preisfrage zu stellen.
 
Das größte Rätsel aber ist, woher sie ihre Blümchen bezieht. Folgende Szene wäre denkbar: Blumengroßmarkt vor den Toren Berlins, morgens um halb fünf. Die Geschäfte sind bereits gemacht, die Blumenhändler mit ihrer Tagesware auf dem Weg zurück zu ihren Geschäften in der Stadt. Hilfsarbeiter kehren die auf dem Boden liegenden Reste der frühmorgendlichen Blumenauktion zusammen. Da betritt eine graue, leicht gebückte Gestalt (es handelt sich um niemand Anderen als unsere Blumenfrau) mit einem großen, kunstvoll geflechteten Bastkorb die Halle. Sie schleicht zwischen den geparkten Gabelstaplern hindurch, schaut sich dabei nervös zu allen Seiten um. Sie will nicht entdeckt werden und weiß nicht, dass alle hier längst Bescheid wissen. Hastig macht sie sich daran, die von der Auktion liegengebliebenen und noch nicht weggekehrten Blumenreste aufzusammeln. Ihre rechte Hand schaufelt die geknickten und leicht ramponierten Blumenköpfe und Stiele in den Korb. Alles geht rasend schnell. Keine zehn Minuten später, der Korb ist voll, verschwindet die Frau wieder. Bis zum nächsten Morgen.
 
Wieder zuhause, kippt die Blumenfrau ihre „Schätze“ auf den Küchentisch, kocht sich einen Tee und macht sich dann daran, das blumige Wirrwarr zu entflechten. Stiele auf die linke, Blumenköpfe auf die rechte Seite des Tisches. Dann holt die Blumenfrau eine Rolle Draht aus der Kammer hinter der Küche und beginnt mit den Bindearbeiten. Und aus dem zunächst undefinierbaren Haufen Kompost entstehen nach und nach ansehnliche, kleine Sträuße. Schließlich nickt die Blumenfrau zufrieden, die Arbeit ist getan. Jetzt kann sie sich für ihre nächtliche Tour fertig machen. Vorher trinkt sie aber noch eine weitere Tasse Tee.
 
Gegen elf Uhr bricht die Blumenfrau dann auf. Sie kennt ihre Tour im Schlaf. Spricht sie vielleicht deswegen nie? Man weiß es nicht. Bar um Bar, Kneipe um Kneipe, Restaurant um Restaurant wird abgearbeitet. Genug Pärchen, die nur auf Blumen warten, gibt es ja immer…
 
Gute Chancen, die Blumenfrau einmal zu treffen, gibt es übrigens in der Ankerklause. Und wer ihr einmal einen Strauß abgekauft hat, kann sich gerne hier melden und berichten: Sind es echte Blumen, was kostet ein Strauß, spricht sie wirklich nie? Bis dahin bleibt die Blumenfrau eines der großen ungelösten Rätsel von Kreuzberg.

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Kommentare

  • Zorro
    10/03/2011 at 10:29

    Sissy stammt aus Wien und wenn man mit ihr spricht hört man noch den wiener Dialektheaus. Sissy bindet ihre Sträusse selber und dies seit nahezu 30 Jahre.

  • Iris
    19/08/2010 at 3:24

    Als waschechte X- bergerin weiss ich woher Sie ihre Blumen bezieht 😉 zumindest einen Teil davon…

  • sab
    11/06/2009 at 11:40

    Die Blumenfrau heisst Sissy und ihre Sträusse kosten soviel ich weiss zwischen fünf und sieben fünfzig. Wenn man ihr nett rüber kommt, dann redet sie auch mit einem!(Alle Angaben ohne Gewähr!)

  • fist of the north star
    07/10/2008 at 23:37

    Liebe „Macher“ dieser Seite resp. homepage/website!! (oder wie sagt man da eigentlich: Content-Provider?) Ich wollte Euch „nur“ sagen: WELL DONE! Tolle Seite. Wenn ich reisen könnte, was ich nicht kann, also nicht ohne Hilfe, würde ich sofort nach Kreuzberg im Berlinischen kommen, um mir alls das anzugucken, was Ihr da so farbenfroh schildert. Ihr seid mir schon ein lustiges Völkchen!!! hahaha-hihi Ich habe aber auch ein paar Vorschläge zu machen: a) ich finde nichts über Angelmöglichkeiten!!! Man kann doch sicher am Landkanal angeln, oder? b) ich vermisse auch ein sog. „schwarzes Brett“ für gebrauchte Elektrogeräte. Ich suche einen alten Münzspielautomaten. c) Kontaktanzeigen sind das „A und O“ eines jeden Internet-Auftritts. Denkt mal drüber nach. Liebe Grüsse und alles alles Gute!!! Bis morgen!

  • st.pauli-maxi
    07/10/2008 at 15:38

    ganz toll! vielen dank für diese mythischen geschichten über kreuzberg und seine originale. das sind die geschichten, die die welt braucht! gut geschrieben und voll von echter liebe für eins der wundervollsten stadtviertel der welt. so wie die ganze seite übrigens dem kreuzberg-menschen eine echte internet-heimat bietet. das war schon lange überfällig und vereinigt hier zeitgeist und relevante information auf gekonnte art und weise. Herzlichen glückwunsch. max.

  • CaptainCut
    25/09/2008 at 0:57

    [color=blue]Klasse![/color] Sehr unterhaltsam – kenn die Frau mit den Blumen bislang nicht, aber bin gespannt sie kennen zu lernen 🙂 Kann Sie mir dank dieser Zeilen nun lebhaft vorstellen … hoffe auf weitere Geschichten über Kiezgrößen!! Gruß cc

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