Kurz vor vier. Ein kleines Grüppchen, vielleicht zwanzig, dreißig Leute, warten vor dem Spätkauf „Multikulti“ in der Wiener Straße auf den Beginn der Aktion. Die Hälfte der Wartenden sind Presseleute – Kamerateams, Reporter, Fotografen. Auch der unvermeidliche RBB ist mit einem Wagen vor Ort. Neues aus dem Kiez einfangen. In zehn Minuten findet hier der erste deutsche Carrotmob in Deutschland statt.
Das Motto des Carrotmob ist „Einkaufen für den Umweltschutz“ – der Besitzer des Ladens hat versprochen, 35 % des Umsatzes, den die Carrotmobber in den nächsten drei Stunden bis 19 Uhr mit ihren Einkäufen machen, in den klimafreundlichen Umbau seines Geschäfts zu investieren. Die Hoffnung der Organisatoren ist groß, dass möglichst viele Leute kommen. Vier Uhr. Noch immer sind es nur eine Handvoll Leute, die sich vor dem Laden eingefunden haben. Wo sind die Massen? Insgeheim hat man doch mit viel mehr spontanen Carrotmobbern gerechnet – die Organisatoren zumindest haben viel dafür getan: Interviews gegeben, getwittert, eine eigene Seite gestaltet – 1000 Seitenzugriffe pro Tag, vermeldeten sie zuletzt stolz. Die Aktion beginnt.
Doch von 1000 Leuten keine Spur, auch wenn sich der Platz vor dem Spätkauf nun allmählich füllt. Immer wieder sieht man ein paar bierbeladene Stammkunden des Spätkaufs, der direkt gegenüber dem Görlitzer Park liegt, etwas ratlos am Laden vorbeigehen. „Wasn hier los?“, steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Im Laden haben die Kamerateams mit ihren schweren Stativen eine kleine Empore eingenommen. Von hier aus hat man einen guten Überblick. Ein Kameramann klettert auf eine wacklige Bionadekiste, gleich daneben blitzt ein Fotograf im Sekundentakt, was die Speicherkarte hergibt. Gesichter einfangen. Unten im Laden Gewühle. Halb fünf, der Laden ist jetzt voll. Eine Schlange hat sich gebildet, die bis auf die Wiener Straße reicht. Menschen zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig hauptsächlich. Sonnenbrillen, auffallend modisches Understatement, Generation Easy Jet, digitale Bohème oder sowas in der Art. Aber der Besitzer hat dafür keine Augen, er ist ganz mit kassieren beschäftigt. Ein Sixpack Bier, drei Tüten Chips, süßer Wein, Fertigkartoffelpüree von Lidl gehen über den Ladentisch. Ein Vater kämpft sich mit seinen beiden Töchtern durch die Kamerateams und Fotografen zur Eistruhe. „Die haben ja gar kein Waffeleis“, quengelt das Mädchen. Der Kameramann stürzt fast von der Getränkekiste und wird im letzten Moment von seinem Assistenten aufgefangen.
Zehn nach fünf. Die ersten Fotografen verlassen den Laden, vor dem die Schlange wieder kürzer geworden ist. Einer der Organisatoren steigt aus der herumstehenden Menge auf und gibt Durchhalteparolen aus: gleich komme eine Band, bitte hierbleiben. Minuten später beginnen zwei Gitarrenspieler mit einem CO2-neutralen Folkkonzert. Die Stimmung ist gut. Halb sechs. Ein Gorilla verteilt Karotten an die Leute. Wer ist der Mann mit der Affenmaske? Ein Trittbrettfahrer? Oder ein Teil der Aktion? Der Einkauf geht weiter. Doch es zeichnet sich ab: 1000 Leute, das wird schwer. Tanja Peuker vom Organisationsteam des Carrotmob ist trotzdem zuversichtlich. Ungefähr 300 Teilnehmer habe man gezählt bis jetzt. Und der Umbau des Ladens beginne schon am Montag – ein Energieberater wird zusammen mit dem Ladenbesitzer die Möglichkeiten ausloten, abhängig natürlich auch vom erzielten Umsatz. Die Organisatoren sind gelassen und machen ihren Job: Ketteninterviews mit den immergleichen Fragen, am Eingang des Spätkaufs für Ordnung sorgen. Doch wirklich viel ist nun nicht mehr los. Die Carrotmobber stehen in Gruppen vor dem Laden, trinken Bier, schauen. An dem selbstgemalten Verbotsschild, das das Trinken von Alkohol strengstens untersagt, stört sich Niemand. Das Gitarrenduo wird gerade von einer Einmann-Band abgelöst – ein Synthesizer spuckt einen blechernen Funkbeat aus, dazu der nervenaufreibende Sound der Hammondorgel.
Spätestens jetzt hat sich die ganze Aktion in eine Art Spontanparty verwandelt. Das eigentliche Ziel, einkaufen für die Umwelt, scheint ein wenig vergessen. Innen im Laden ist es jetzt kaum voller als an einem guten Sommerwochenende, wenn Karawanen von Biertrinkern hier für Nachschub anstehen. Nicht Wenige haben sich vor der Aktion die Frage gestellt, warum ausgerechnet dieser Laden ausgesucht wurde. Die offizielle Antwort lautete: der Besitzer hat die besten Konditionen versprochen. Doch auch nach der Aktion stellt sich noch die Frage, ob die Sache wirklich ein Erfolg war. Wird es für mehr reichen, als für neue, isolierte Fenster und ein paar Energiesparlampen? Und war der Presserummel nicht größer als das Ereignis, das Ganze also nur eine mediale Inszenierung? Den Carrotmobbern wäre es zu wünschen, wenn es nicht so wäre. Denn dieser unscheinbare Kreuzberger Spätkauf soll ja erst der Anfang gewesen sein. Andere Geschäfte werden folgen. Vielleicht wird ja dann auch das Verhältnis von Presse und Teilnehmern etwas ausgewogener sein. Ob von denen überhaupt jemand was gekauft hat?
Für den Besitzer hat sich die Sache auf jeden Fall gelohnt. Dicker Umsatz und damit quasi für lau den Laden erneuert. Die anderen Ladenbetreiber, die im Vorfeld abgesagt haben, scheinen das nicht ganz kapiert zu haben. Selbst Schuld.
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Pete
21/06/2009 at 12:39Ah, I see 🙂 Danke für die Info!
Hannes
16/06/2009 at 13:18@pete: carrotmob kommt von „carrots and sticks“, zu deutsch: zuckerbrot und peitsche.
Prost
15/06/2009 at 9:41Für den Besitzer hat sich die Sache auf jeden Fall gelohnt. Dicker Umsatz und damit quasi für lau den Laden erneuert. Die anderen Ladenbetreiber, die im Vorfeld abgesagt haben, scheinen das nicht ganz kapiert zu haben. Selbst Schuld.
heinzcooler
15/06/2009 at 9:22Ich war am Flakplatz beim „grillen für die Umwelt“. Schien mir der größere Hebel 😀
Pete
14/06/2009 at 17:02Wieso heisst das Ding eigentlich Carrotmob? Der Gorilla kam mir im ersten Moment auch wie ein Trittbrettfahrer vor, was mag dahinterstecken?