Kachelofenrealität

Vorbei der Sommer, vorbei die Sommergefühle. Zumindest bis jetzt, keine Spur von einem „Indian Summer“, wie man den warmen und in vielen Farben glänzenden Herbst im anglo-amerikanischen Sprachraum nennt. Grau sind die Tage, grau die Gesichter in den Straßen, grau die Gedanken. Für all jene, die noch mit Kohle heizen, bedeutet das: täglicher Abstieg in den Keller, wo das „schwarze Gold“ lagert. Die Heizperiode also hat begonnen und mit ihr der leicht schweflige Geruch, der nun über den Häusern liegt.
 
Wie ein Blick in Berliner Statistiken verrät, finden sich Kohle- und Kachelöfen „in den dicht bebauten Altbaubereichen der Innenstadt noch mit einem Anteil von 10 bis 30 %“, so auch in Kreuzberg. Jetzt stellt sich die Frage, ob die Besitzer kohlenbefeuerter Wohnungen nun zu beneiden, oder doch eher zu bemitleiden sind. Denn pittoresk sind sie ja, die alten Kachelöfen. Oder „gemütlich“ vielmehr. Das Bild einer milde lächelnden Großmutter stellt sich ein, die neben ihrer dösenden Katze an den bollernden Ofen gelehnt überlange Schals strickt, die sie dann ihrem Zivi schenkt, weil ihre Enkel Strickwaren „voll altmodisch“ finden. Aber dieses Bild hat natürlich nichts mit der existierenden Kachelofenrealität Kreuzberger Altbauwohnungen zu tun. Hier leben keine Großmütter mehr, strickende schon gar nicht. Studenten mit Schals von H&M leben in Kachelofenwohnungen, weil die Mieten günstig sind und weil sie zunächst nichts von der elenden Plackerei ahnen, die so ein Kohlenwinter mit sich bringt.
 
Der Ärger beginnt ja schon bei der Bestellung. Wer den gewieften Kohlelieferanten nicht mit Argusaugen bewacht, wird bei der Anlieferung grundsätzlich über’s Ohr gehauen – so lautet die oft erzählte Schauergeschichte. Ungeübte bestellen eine Tonne und erhalten 900 kg. Ist der Keller dann gefüllt, beginnt die tägliche Schlepperei. Kohleeimer in der Hand, tausend Treppen herunter gestiegen, geschaufelt und wieder zurück in die Wohnung, in der die ersten Eiszapfen von der Decke hängen. Ofen mit Holz und Papier anheizen, Kohle nachlegen und hoffen, dass die Kacheln irgendwann zumindest einen Bruchteil der Wärme in den Raum abstrahlen. Die von der Kohle schwarz eingefärbten Hände streicheln verzweifelt über die Ofenwand – wo bleibt die Wärme? Nein, Besitzer von Zentralheizungen können hier nur grinsen. Sie kennen die Ofenwelt nur vom Hörensagen und das ist auch gut so, denken sie sich im Stillen. Sie sind also nicht zu beneiden, die Ofenbesitzer. Und das mit dem pittoresken Charme hat sich auch bald erledigt. Spätestens nach dem ersten Winter.
 
Doch, und das ist wohl der einzige Vorteil von Kohleheizungen, sie bieten auch einen zunächst vielleicht ungeahnten Nutzen. Und das sogar ganzjährig. Wer immer etwas schnell und unauffällig verschwinden lassen möchte, die Liebesbriefe der Ex-Freundin, die unvorteilhaften Urlaubsfotos, die unerfreulichen Kontoauszüge, steckt es in den Ofen und wirft ein Streichholz hinterher. Schnell lässt sich so ein ganzer Haufen Korrespondenz erledigen. Doch Vorsicht! – Denn auch wenn nun niemand mehr mitlesen kann, mitriechen kann er durchaus. Und die wachsame Nachbarin von Nebenan wittert schnell, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Wer also vorhat, sich die Kohlen einfach ganz zu sparen und den ganzen Winter hindurch mit persönlichen Dokumenten und Hausmüll zu heizen, sollte noch einmal darüber nachdenken. Sonst stehen die besorgte Nachbarin zusammen mit dem Feuerwehrmann, dem Vermieter und einem Beamten der Umweltbehörde plötzlich wild klingelnd vor der Haustür. Und dann ist es ganz schnell vorbei mit dem schönen Geheimnis und all die Erinnerungen und Zahlungsaufforderungen stapeln sich wieder turmhoch auf dem Tisch. Ach ja, und in den Keller muss man dann natürlich auch wieder jeden Tag.
Konstantin Vogas

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Kommentare

  • Luciana Ferrando
    26/10/2015 at 11:23

    Lieber Herr Vogas, für einen Beitrag über Kohleheizung in Berlin für RadioBERLIN 88.8 würde ich mich gerne an Ihren Text beziehen, Bzw. Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Wäre es möglich? Vielen Dank für Ihre Antwort und Grüße, Luciana Ferrando (030) 97 993 34116

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