Beschreibung
An die Mauer erinnert hier und heute nichts mehr. Merkwürdig, ja. Merkwürdig sieht der parkähnliche Kiesweg zwischen Engel- und Bethaniendamm aus. Wie eine Furche, die nicht hierher gehört. Ein Schnitt durch die Stadt. Dass hier bis vor 19 Jahren noch der "antifaschistische Schutzwall" stand, den Begriff hatte sich einst eine kampfbereite DDR ausgedacht, ist kaum mehr nachzuvollziehen. Auch nicht, dass Kreuzberg damals am äußersten Rand der BRD lag. Im totesten Winkel. Der Ort zwar wurde renaturiert, ein paar Sträucher wachsen heute hier, ein paar kleine Bäumchen - merkwürdig jedoch ist er geblieben. Eine Grenze. Nicht mehr zwischen Staaten, zwischen zwei Bezirken nur.
Im Niemandsland zwischen Bethanien- und Engeldamm ziehen heute Jogger ihre Bahnen, Hundebesitzer, ein paar Alkoholiker. Spaziergänger wirken in diesem Niemandsland wie verloren. Als ob sie sich verlaufen hätten zwischen zwei Städten. Am Engeldamm drüben, stehen geschlossene Häuserblocks - viele neu, viele leer. Am Bethaniendamm dagegen, auf Kreuzberger Seite, stehen nur vereinzelte Häuser. Sie wirken wie Mahnmale, einzelne Zähne in einem ausgeschlagenen Gebiss. Der Krieg hat hier Lücken geschlagen, die nie gefüllt wurden. Dann kam die Mauer und dieser Ort wurde zur Frontlinie eines kalten, weil nie ausgetragenen Krieges. Heute fragen die Berlin-Touristen: "wo ist die Mauer?". Die Antwort ist ein Schulterzucken. Hier war sie, nein, man sieht davon nichts mehr. Das Unheimliche dieser Zeit, die bewaffneten Grenzposten, der Stacheldraht und der Blick nach drüben, in ein schlafendes, bewachtes Land, die Geisterzüge der Linie 8, die von hier aus ohne Halt die Hauptstadt der DDR durchquerten - das alles ist Geschichte, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen hat. Bis auf diesen traurig-toten Kiesweg, der genauso in Münster oder Stuttgart liegen könnte.
Der Ort ist trotzdem ein besonderer Ort. Auch wenn ihm die Geschichte ausgetrieben wurde, weil man nach dem Mauerfall nicht schnell genug Normalität an dieser bis zuletzt bizarren Grenze schaffen wollte. Ein Grusel oder ein Schauer stellt sich hier nicht mehr ein, eher das Gefühl von Verlorenheit. Dabei ist der Bethaniendamm nur einen Steinwurf entfernt vom prallen Kreuzberg, von Läden, Menschen, Verkehr. Doch hier ist davon nichts zu spüren. Wer allein sein will mit sich und seinen Gedanken, findet in Kreuzberg kaum einen geeigneteren Platz. Der kurze Spaziergang hinauf zum Engelbecken, dem ehemaligen und heute nicht weniger toten Hafen, weiter den Leuschnerdamm runter bis zum Oranienplatz, ist lohnenswert. Kreuzberg sieht hier ganz anders aus, als gewohnt. Das ist die Rückseite, der gesichtslose Teil. Nicht zu verwechseln mit "geschichtslos". Ganz im Gegenteil. Hier nämlich hat die Geschichte einen Raum hinterlassen, der paradoxerweise weder vom Leben, noch von ihr selbst, der Geschichte, Zeugnis gibt. Wie eine weggeworfener Schlauch führt der Bethaniendamm Richtung Mitte. Und erst an seinen beiden Enden beginnt zaghaft wieder das Leben.
Lea
14/05/2019 at 21:10Kann man sich mal angucken, wenn man eh in der Nähe ist 🙂
Joerg Neubauer
29/12/2015 at 10:38Sehr komischer Text. Warum sollten auswärtige Besucher dieser Ecke nun ein Gruselgefühl bekommen, weil hier mal die Mauer stand? Es ist sehr schön rekonstruiert worden, was dort früher, bis zum 2. Weltkrieg mal war: Der Kanal, der See, die Parkanlagen. Stattdessen eine Todeszone mit Wachturm und Schäferhunden für Touristen? Ein Grusel-Disneyland? Nein Danke. Das hätte uns als Anwohner (West/Ost) gerade noch gefehlt. Hier ist nicht „Geschichte ausgetrieben“ worden, sondern ein Stück noch ältere Geschichte rekonstruiert worden.
Gable
24/02/2015 at 16:06Leider wird hier nur auf die Mauer Bezug genommen. Berlin ist aber älter und hat mehr Geschichte zu bieten. Eine Erwähnung wäre der Luisenstadtisxche Kanal wohl wert gesesen, der für die Vertiefung in der Mitte verantwortlich ist. Dieser Kanal zwischen Spree und Landwehrkanal hat hier das Berliner Stadtbild weit mehr geprägt als die Mauer.
jp
08/11/2008 at 18:08schön geschrieben, habe an besagter stelle ähnliche gefühle… ebenfalls aber keine „negativen“; mag die Ecke irgendwie 🙂